Gewalt im Geschlechterverhältnis im engen sozialen Nahraum

Auf einen Blick

Gewalt ist ein zentrales Thema für die Gleichstellung von Frauen und Männern, denn die Freiheit von Gewalt ist eine Voraussetzung für tatsächliche Geschlechtergerechtigkeit. Gewalt im Geschlechterverhältnis wird vorwiegend von Männern gegen Frauen und queere Menschen ausgeübt; aber auch Männer sind von geschlechtsbezogener Gewalt betroffen. Dabei gibt es unterschiedlichste Formen und Schweregrade der geschlechtsbezogenen Gewalt. Für Frauen ist gerade die Trennungs- und Scheidungssituation eine Risikosituation.

Die Folgen dieser Gewalt sind gravierend – nicht nur für die Betroffenen selbst. Die gesamtgesellschaftlichen Folgen und auch Folgekosten sind enorm. Und obwohl in den letzten Jahrzehnten viele Aktivitäten zum besseren Schutz gegen geschlechtsbezogene Gewalt unternommen wurden, fehlt es weiterhin an einem flächendeckenden Ausbau und der verlässlichen Finanzierung von Interventions- und Beratungsstellen für Betroffene, an Täterarbeit sowie an der Schulung von Richter*innen und Staatsanwält*innen. Auch ein umfassendes Präventionskonzept wäre nötig. Die „Istanbul-Konvention“ ist ein wirksames Instrument zur Beendigung von Gewalt im Geschlechterverhältnis – allerdings bestehen auch hier noch Umsetzungslücken.

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von Monika Schröttle

Der Begriff „Gewalt im Geschlechterverhältnis“ verweist auf gesellschaftlich ungleiche Machtverteilungen zwischen den Geschlechtern als Hintergrund der weitgehend von Männern ausgehenden Gewalt gegen Frauen, aber auch gegen queere Menschen. Carol Hagemann-White, die diesen Begriff für Deutschland prägte, definiert diese als „jede Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität einer Person, welche mit der Geschlechtlichkeit des Opfers und des Täters zusammenhängt und unter Ausnutzung eines Machtverhältnisses durch die strukturell stärkere Person zugefügt wird“ (Hagemann-White 1992: 23).

Die Istanbul-Konvention des Europarats ist ein internationales Abkommen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen im Kontext der Ungleichstellung von Frauen und Männern. In ihr heißt es, Gewalt gegen Frauen sei „einer der entscheidenden sozialen Mechanismen (…), durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden“ (Europarat 2011: 4). In Art. 3 d. bezeichnet die Istanbul-Konvention den Begriff der „geschlechtsspezifischen Gewalt“ als „Gewalt, die gegen eine Frau gerichtet ist, weil sie eine Frau ist, oder die Frauen unverhältnismäßig stark betrifft“ (ebd.: 5).1

Die volle Gleichstellung der Geschlechter auf allen Ebenen kann nur erreicht werden, wenn Frauen nicht mehr von Gewalt durch Männer bedroht oder betroffen sind.

„Die Gleichstellung der Geschlechter und der Abbau von Gewalt im Geschlechterverhältnis sind eng miteinander verbunden und bedingen sich wechselseitig.“ (Schröttle 2017: 1)

Formen und Ausmaß von Gewalt im Geschlechterverhältnis

Formen von Gewalt im Geschlechterverhältnis sind körperliche, sexualisierte und psychisch-emotionale sowie ökonomische Gewalt; darüber hinaus sind sexuelle Belästigung, Stalking und digitale Gewalt für die politische Diskussion und Fachdiskussion relevant (Schröttle 2017: 7; Frey 2020: 6). Femizide sind Tötungsdelikte, die an Frauen aufgrund ihres Geschlechts verübt werden; sie werden am häufigsten durch Partner oder Ex-Partner verübt und auch in Deutschland zunehmend thematisiert (siehe z. B. bpb 2023).

Laut Lagebild zum Berichtsjahr 2022 des Bundeskriminalamts waren 71,1 Prozent der Opfer Häuslicher Gewalt weiblich (BKA 2023: 5). Im Bereich der Partnerschaftsgewalt war der Frauenanteil unter den Opfern noch höher und lag bei 80,1 Prozent (BKA 2023: 6). Bei den Tatverdächtigen von Partnerschaftsgewalt handelte es sich zu 78,3 Prozent um Männer (BKA 2023: 6, 28). Bei der Beziehung zwischen Opfer und Tatverdächtigen von Partnerschaftsgewalt waren 39,5 Prozent ehemalige Partner*innen sowie 60,5 Prozent aktuelle Beziehungspartner*innen (31,1 Prozent Ehe, 29,1 Prozent nichteheliche Lebensgemeinschaft, 0,3 Prozent eingetragene Lebenspartnerschaft) (BKA 2023: 6, 17).

Quelle: BKA 2023: 6, 17, 28

Frauen erleben am häufigsten Gewalt in heterosexuellen Beziehungen, während Männer häufiger Opfer von Gewalt durch andere Männer im öffentlichen Raum oder Bekanntenkreis werden. 2 Wenn Männer schwere Gewalt erleben, findet diese häufiger durch andere Männer und im öffentlichen Raum statt (GiG-Net 2008: 19 ff.). Wenn Männer Gewalt in Paarbeziehungen erleben, handelt es sich seltener um wiederholte, schwere oder bedrohliche Gewalt, die in ungleiche Machtverhältnisse zu Ungunsten der Männer eingebunden ist (GiG-Net 2008: 19 ff.; Schröttle 2010: 143). 3

Eine Auswertung von Mustern von Gewalt in bestehenden Paarbeziehungen konnte aufzeigen, dass Frauen häufig wiederholte Gewalt durch Partner erleben (Schröttle/Ansorge 2008: 19 ff.):

  • Von Mustern systematischer Misshandlung (durch schwerere körperliche, sexuelle und psychische Gewalt) in der aktuellen Paarbeziehung waren sechs Prozent der in Beziehung lebenden Frauen in Deutschland betroffen.
  • Mehr als jede zehnte Frau (elf Prozent) hatte in der aktuellen Paarbeziehung Muster erhöhter psychischer Gewalt ohne körperliche/sexuelle Gewalt erlebt, die oft nicht als Gewaltmuster erkannt werden, aber mit schweren gesundheitlichen Folgen verbunden sein können.
  • Darüber hinaus konnten bei etwa jeder fünften Frau weitere Muster mit a) gering ausgeprägter psychischer (ohne körperliche) Gewalt (15 Prozent), b) einmaliger leichter körperlicher Gewalt (drei Prozent) und c) leichter bis mäßig schwerer körperlicher Gewalt mit gering ausgeprägter psychischer Gewalt (drei Prozent) durch den aktuellen Partner identifiziert werden.

Von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz waren nach einer von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegebenen empirischen Studie für den Zeitraum Juni 2018 bis Mai 2019 fünf Prozent der Männer und 13 Prozent der Frauen betroffen, wobei Frauen diese häufiger durch Vorgesetzte erfuhren und sie auch insgesamt als bedrohlicher und belastender erlebten als Männer (Schröttle et al. 2019: 58; ebd.: 75 ff.).

Risikofaktoren und Risikosituationen

Anders als häufig vermutet, betrifft Gewalt im Geschlechterverhältnis und Gewalt gegen Frauen alle sozialen und Bildungsgruppen; sie lässt sich auch nicht überwiegend auf „andere Kulturen“ beziehen (Schröttle/Ansorge 2008: 178). Besonders häufig betroffen sind Frauen, die in Kindheit und Jugend bereits Gewalt durch Eltern oder zwischen den Eltern erlebt haben (ebd.). Darüber hinaus stellt für Frauen die Trennungs- und Scheidungssituation, wenn sie sich von kontrollierenden und gewaltbereiten Partnern trennen, eine Hochrisikosituation dar (ebd.: 205). Mit Abstand am häufigsten von Gewalt betroffen sind Frauen mit Behinderungen. Je nach Gewaltform und Behinderung haben sie im Vergleich zu Frauen im Bevölkerungsdurchschnitt zwei- bis viermal häufiger Gewalt in Kindheit, Jugend und Erwachsenenleben erfahren (Schröttle et. al. 2013: 10).

Folgen von Gewalt gegen Frauen

Nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stellt insbesondere häusliche Gewalt eines der größten Gesundheitsrisiken für Frauen (und Kinder) dar (Krug et al. 2002: 14 f.). Auch im bundesdeutschen Frauengesundheitsbericht (RKI 2020) werden die gesundheitlichen Folgen von Gewalt gegen Frauen beschrieben. Sie reichen von physischen Verletzungen über verschiedene psychosomatische Erkrankungen (z.B. Magen-Darm-Erkrankungen, Schmerzsymptome, Herz-Kreislauf-Beschwerden, gynäkologische Erkrankungen) bis hin zu psychischen und psychosozialen Folgeproblemen (u.a. Angststörungen, Konzentrationsprobleme, Depressionen und Stresssymptome sowie lebensgeschichtliche Brüche) (RKI 2020: 313 ff.). Daraus resultieren hohe gesamtgesellschaftliche und individuelle Folgekosten der Gewalt (Schröttle/Glade 2020: 317 f.). Auch die Bildungs-, Erwerbs- und Karriereverläufe von Frauen, ebenso wie ihre ökonomische Situation, werden durch die Folgen von geschlechtsspezifischer Gewalt beeinträchtigt (ebd.).

Unterstützung und Schutz bei Gewalt

In Deutschland wurde in den letzten Jahrzehnten ein differenziertes Hilfe- und Unterstützungssystem auf- und ausgebaut. Es reicht von bundesweiten Hilfetelefonen für gewaltbetroffene Frauen und Männer über örtliche Notrufe und Beratungsstellen für Frauen, Männer, queere Personen sowie Menschen mit Flucht- und Migrationshintergrund, bis hin zu Frauenhäusern und Notunterkünften zum Schutz vor Gewalt. Dort können Gewaltbetroffene anonym und niedrigschwellig Unterstützung, Beratung und Schutz durch ausgebildete Fachkräfte erhalten. Darüber hinaus bestehen Angebote zur Täterarbeit und Tatprävention, die allerdings noch nicht bundesweit ausgebaut sind (Überblick über bestehende Angebote auf der Webseite des BMFSFJ 2022, der Frauenhauskoordinierung 2023 oder der Zentralen Informationsstelle der Autonomen Frauenhäuser 2023). Die Versorgung von gewaltbetroffenen Frauen und ihren Kindern ist jedoch nicht flächendeckend im gesamten Bundesgebiet gewährleistet und trotz wiederholter Kritik in den letzten 15 Jahren nach wie vor nicht bedarfsdeckend. So mangelt es beispielsweise nach wie vor an einer ausreichenden Anzahl an Frauenhausplätzen und einer verlässlichen Finanzierung des Unterstützungs- und Beratungssystems (GREVIO 2022: 60 ff.; Deutscher Verein 2022a: 21 ff.).

Für Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe leben, wurden Gewaltschutzkonzepte entwickelt und implementiert, externe Fachberatungsstellen besser zugänglich gemacht und Frauenbeauftragte als niedrigschwellige Ansprechpersonen eingeführt (Schröttle et al. 2021a: 21). Darüber hinaus gibt es für Betroffene von Diskriminierung und sexueller Belästigung am Arbeitsplatz allgemeine und spezifische Anlaufstellen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Betriebe (ADS 2023: 19).

Im Bereich der häuslichen Gewalt war die Einführung des Gewaltschutzgesetzes im Jahr 2002 ein wichtiger Meilenstein (BMFSFJ/BMJ 2019). Nach dem Grundsatz „Wer schlägt, muss gehen – das Opfer bleibt in der Wohnung“ führte es dazu, dass Opfer von häuslicher Gewalt auf Antrag in der Wohnung bleiben und Täter diese verlassen müssen. Darüber hinaus können weitere Schutzmaßnahmen getroffen werden, zum Beispiel Näherungs- und Kontaktverbote für Täter (BMFSFJ/BMJ 2019: 13 f.).

Inzwischen sind auch polizeiliche Kräfte im Bereich häuslicher Gewalt gut geschult. Es gibt vielfach Sonderdezernate für häusliche und sexualisierte Gewalt bei Polizei und Staatsanwaltschaften, um Opfer zu schützen und die Taten besser sanktionieren zu können. Darüber hinaus ist auch die institutionenübergreifende Zusammenarbeit sehr wichtig. So werden in mehreren Regionen bei Hochrisikofällen Fallkonferenzen unter Beteiligung von Polizei, Justiz, Hilfesystem, Täterarbeit, Jugendamt und anderen wichtigen Akteur*innen einberufen, um zeitnah weitere Taten zu verhindern und Betroffene und deren Kinder zu schützen.

Trotz dieser umfangreichen Aktivitäten zum besseren Schutz zeigen wissenschaftliche und politische Analysen auf, dass noch mehr getan werden muss, um Gewalt im Geschlechterverhältnis zu verhindern und Gewaltbetroffene erfolgreich zu schützen und zu unterstützen (Helfferich et al. 2012: 22 f.; Schröttle et al. 2016: 123 f.; BIK 2021; GREVIO 2022: 3 f.; Schröttle et al. 2021b: 49 f.; s. a. Abschnitt 6). So fehlen beispielsweise der flächendeckende Ausbau und die verlässliche Finanzierung von Interventions- und Beratungsstellen für betroffene Frauen, von Täterarbeit sowie die Schulung von Richter*innen und Staatsanwält*innen – alle drei wichtige Säulen für wirksamen Gewaltschutz und Prävention fortgesetzter häuslicher Gewalt.

Prävention von Gewalt im Geschlechterverhältnis

Bislang gibt es keine Hinweise darauf, dass Gewalt gegen Frauen und Tötungsdelikte an Frauen in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zurückgegangen sind und bisherige Aktivitäten und Maßnahmen zu einem relevanten Abbau der Gewalt geführt hätten. Deshalb ist Prävention von Gewalt im Vorfeld ihrer Entstehung wichtig.

Prävention von Gewalt gegen Frauen ist „nur durch eine Veränderung der Werthaltungen und geschlechtsspezifischen Rollenvorstellungen und Identitäten möglich“ (Schröttle 2017: 15). Machtdynamiken im Geschlechterverhältnis auf unterschiedlichen Ebenen müssen sichtbar gemacht und verändert werden. Notwendig sind gezielte Öffentlichkeitsarbeit, die Schulung verschiedener Berufsgruppen, die Sensibilisierung von Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen, wobei Jungen und Männer noch besser erreicht werden müssen. Wichtig ist auch, egalitäre und gewaltfreie Geschlechterbeziehungen in der Bildungsarbeit von Kitas und Schulen zu vermitteln sowie in der Erwachsenenbildung und Gemeinwesenarbeit, z. B. in Nachbarschaftsprojekten (Schröttle et al. 2016: 87 ff.; Schröttle 2017: 207 f.; BIK 2021: 34).

Mit Blick auf die Prävention von häuslicher und sexualisierter Gewalt gegen Frauen empfehlen Schröttle et al. (2016: 114 ff.) folgende Maßnahmen:

  • generelle Präventionsmaßnahmen in Schulen und Bildungseinrichtungen sowie gezielte Unterstützungsmaßnahmen für Kinder, die in Situationen häuslicher Gewalt leben oder gelebt haben;
  • die Fortführung und Intensivierung von Öffentlichkeitsarbeit und Kampagnen gegen sexualisierte und häusliche Gewalt;
  • den Ausbau flächendeckender Fort- und Weiterbildungen für alle relevanten Berufsgruppen;
  • die gezielte Förderung von Beratung und Unterstützung aller Beteiligten in Trennungs- und Scheidungssituationen.

Für Deutschland empfiehlt das Bündnis Istanbul-Konvention (BIK) ein umfassendes Präventionskonzept, „das sich an alle Alters- und Zielgruppen richtet, das Jungen und Männer sowie potenzielle Täter und soziale Umfelder anspricht, und das von gewaltbetroffenen Frauen und Mädchen“ sowie Migrant*innenorganisationen mitentwickelt wird (BIK 2021: 35).

Politik zur Beendigung von Gewalt im Geschlechterverhältnis: Die Istanbul-Konvention

Das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ von 2011 ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der unter dem Namen „Istanbul-Konvention“ (IK) bekannt wurde. Deutschland hat die Konvention im Jahr 2017 ratifiziert, sie trat 2018 in Kraft. Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsstaaten zu umfassenden Maßnahmen der Prävention (Kapitel III), der Bereitstellung von Schutz- und Unterstützungsangeboten (Kapitel IV), der Koordinierung, Vernetzung und Datensammlung (Kap. II) und der Schaffung rechtlicher Grundlagen im Straf-, Zivil- und Ausländerrecht (Kapitel V, VI, VII) (Europarat 2011; DIMR o. J.). Die Konvention zielt „auf die Stärkung der Gleichstellung von Mann und Frau und des Rechts von Frauen auf ein gewaltfreies Leben“ (DIMR o. J.).

Inhalte der Konvention

Die Istanbul-Konvention stützt sich auf vier Grundpfeiler, die auch als die „4 Ps“ bekannt sind:

  • Protection (Schutz)
  • Prevention (Prävention)
  • Prosecution (Strafverfolgung)
  • Co-ordinated Policies (Koordinierte Maßnahmen/Gesamtstrategien)

In Kapitel IV der Konvention (Schutz und Unterstützung) wird die staatliche Verpflichtung formuliert, Frauen wirkungsvoll vor Gewalt zu schützen sowie Gewalt gegen Frauen zu verhüten, zu verfolgen und zu beseitigen. Darüber hinaus werden Rahmenvorgaben und umfassende Maßnahmen zum Schutz und zur Unterstützung der Betroffenen aufgeführt: Unterstützungsangebote müssen niedrigschwellig, zugänglich, regional verteilt und erreichbar, ferner langfristig finanziert und institutionell abgesichert sein (Europarat 2011: 64 ff.).

Kapitel III (Prävention) sieht Maßnahmen zur umfassenden Prävention und Bewusstseinsbildung vor. Diese zielen unter anderem auf die Veränderung sozialer und kultureller Verhaltensmuster von Frauen und Männern, die Stärkung von Frauen und Mädchen sowie die aktive Beteiligung von Männern und Jungen. Dies soll erreicht werden über Kampagnen und Programme zur Bewusstseinsbildung und Informationsvermittlung, Bildungsmaßnahmen, Fort- und Ausbildung relevanter Berufsgruppen, eine umfassende Täterprävention sowie durch Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. Gefordert wird ein ganzheitliches Konzept, das Prävention, (rechtliche) Intervention, Schutz und Beratung sowie Koordinierung aller Akteur*innen umfasst und eine angemessene Finanzierung vorsieht (Europarat 2011: 57 ff.).

Der Bereich Rechtsetzung und Rechtsanwendung (Kap. V. und VI. der Konvention) fordert die Schaffung von Rechtsgrundlagen, unter anderem zu zivilrechtlichen Ansprüchen und Schadensersatz/Entschädigung nach Gewalt, zum Schutz Betroffener im Kontext von Umgangs- und Sorgerecht4 sowie zur Sanktionierung verschiedener Delikte im Kontext geschlechtsspezifischer Gewalt. Darüber hinaus konkretisiert er Anforderungen an Ermittlung und Strafverfolgung, Verfahrensrecht und Schutzmaßnahmen, etwa die sofortige Intervention, Schutz und Prävention sowie Beweisermittlung durch Polizei und Justiz, Gefährdungsanalysen und Gefährdungsmanagement, Schutzanordnungen (Wegweisung, Kontakt-/Näherungsverbot) sowie unentgeltliche Rechtsberatung und Rechtsbeistand für Betroffene (Europarat 2011: 72 ff.).

In Kap. II der Konvention (Koordinierung / Vernetzung) ist die Einrichtung einer oder mehrerer Koordinierungsstellen zur Umsetzung der Konvention vorgesehen. Für diese werden vielfältige Aufgaben beschrieben: neben der Koordinierung und Umsetzung der Maßnahmen sind das auch die Beobachtung und Bewertung der Umsetzung sowie die Datensammlung, Analyse, Forschung und Verbreitung der Informationen. Dabei kann ein koordiniertes und arbeitsteiliges Vorgehen unterschiedlicher Akteur*innen aus Praxis, Politik und Verwaltung erfolgen; die Strukturen müssen gemeinsam und entlang von unterschiedlichen Kompetenzen und sinnvollen Aufgabenteilungen entwickelt werden (Europarat 2011: 51 ff.).

Umsetzung der Konvention in Deutschland und Überwachung durch GREVIO

Die Überwachung der Umsetzung der Istanbul-Konvention in den Mitgliedsstaaten erfolgt durch eine unabhängige Expert*innengruppe des Europarats, die „Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence“ (GREVIO). Sie sendet im Prüfverfahren zunächst an die Staaten einen Fragebogen zur Umsetzung der Konvention. Daraufhin überprüfen die Expert*innen die Inhalte des darauf aufbauenden Staatenberichts und statten dem jeweiligen Land einen Evaluierungsbesuch ab. Bei diesem werden sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteur*innen angehört sowie Einschätzungen der Zivilgesellschaft (und alternative NGO-Berichte) einbezogen. Schließlich richtet GREVIO im Rahmen eines Evaluierungsberichtes weitere Empfehlungen an die Staaten zur Fortschreibung der Umsetzung der Konvention (s. alle Dokumente in: DIMR o. J.).

Im Evaluierungsbericht für Deutschland vom Oktober 2022 wird zum einen positiv hervorgehoben, dass Deutschland durch eine Reihe von Maßnahmen und Aktionspläne aktiv zur Umsetzung der Istanbul-Konvention und zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen beigetragen hat. Dazu gehören, über das bereits vor der Konvention eingeführte Gewaltschutzgesetz hinaus, die Reform des Sexualstrafrechts, die Einführung des nationalen Hilfetelefons, mehrere Aktionspläne und Sensibilisierungskampagnen, die Kriminalisierung digitaler Gewalt, die regelmäßige Sonderauswertung der polizeilichen Daten zur Partnerschaftsgewalt sowie die Vernetzung wichtiger Akteur*innen (GREVIO 2022: 3).

Allerdings kritisiert GREVIO, dass weiterhin ein strategischer Rahmen auf nationaler Ebene für die Umsetzung der Konvention fehle, der die entsprechenden Gewaltformen definiert und „bundesweite Ziele zur Umsetzung der Konvention setzt, die die Rechte der Opfer in den Mittelpunkt stellen und dem geschlechtsspezifischen Charakter (…) gebührende Bedeutung“ beimessen (ebd.). Bemängelt wurden in diesem Zusammenhang unter anderem das Fehlen einer nach Art. 10 IK vorgesehenen Koordinierungsstelle, das uneinheitliche Aus- und Fortbildungsniveau der verschiedenen Fachkräfte sowie der unzureichende Schutz und die unzureichende Unterstützung für gewaltbetroffene Frauen.

Erforderlich seien Maßnahmen der Risikoabschätzung und behördenübergreifenden Zusammenarbeit aller Institutionen im Rahmen eines standardisierten Sicherheitsmanagements und die Förderung der wirtschaftlichen Selbstbestimmung betroffener Frauen durch Arbeitsvermittlung sowie die Bereitstellung von Sozialwohnungen. Darüber hinaus müsse gewährleistet sein, dass flächendeckend Frauenhausplätze und Fachberatungsstellen in ausreichender Zahl zur Verfügung stünden (ebd.: 3 f.). Überdies sollen nach GREVIO eine nationale Strategie und Maßnahmen im Bereich der Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen auf Frauen fokussieren, die von intersektionellen Diskriminierungen betroffen sind und geschlechtsspezifische Dimensionen – auch in Recht und politischen Leitlinien – berücksichtigen (ebd.: 4 f.).

Eine weitere Kritik von GREVIO richtete sich auf die Praxis der Behörden im Umgang mit Sorge- und Umgangsrecht nach häuslicher Gewalt. Hier müsse nach Art. 31 der Konvention sichergestellt werden, dass im Kontext der Ausübung des Umgangs- und Sorgerechts nicht die Rechte und die Sicherheit der gewaltbetroffenen Frau und ihrer Kinder gefährdet würden (ebd.: 4).

Zur vollständigen Umsetzung der Konvention empfiehlt GREVIO eine Reihe von weiteren Maßnahmen in den Bereichen strafrechtlicher Anzeige und Verfolgung der Taten, harmonisierter Datenerhebung und -auswertung zwischen Strafverfolgungsbehörden und Justiz, Eilschutzmaßnahmen zur Aussetzung des Umgangs mit Kindern im Kontext des Gewaltschutzgesetzes, außerdem Maßnahmen zur Unterstützung mitbetroffener Kinder, zur Täterarbeit und zum Schutz migrierter Frauen (ebd.: 4 f.).

Seit November 2022 ist das Deutsche Institut für Menschenrechte (DIMR) von der Bundesregierung als Koordinierungsstelle gem. Art. 10 IK vorgesehen. Seither verantwortet die „Berichterstattungsstelle geschlechtsspezifische Gewalt“ die kontinuierliche und unabhängige innerstaatliche Berichterstattung zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Deutschland. Im August 2023 hat die Berichterstattungsstelle einen ersten Datenbericht zu geschlechtsspezifischer Gewalt in Deutschland veröffentlicht mit dem Ziel, eine zentrale Grundlage zu schaffen, „um künftig die Erfüllung der menschenrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands aus der Istanbul-Konvention sicherzustellen und Handlungsbedarfe zu identifizieren.“ (DIMR 2023: 9). Hier wird sich in den nächsten Jahren zeigen, ob die empirische Basis in ausreichendem Maße geeignet ist, die faktische Umsetzung der Konvention kritisch zu prüfen.

Der nächste GREVIO-Überprüfungsprozess für Deutschland beginnt im Januar 2025 und wird eine erste thematische Begutachtung der Umsetzung der IK in Deutschland zum Gegenstand haben.

Ausblick

Die Analyse der aktuellen rechtlichen und politischen Situation in Deutschland verweist darauf, dass wir einerseits auf einem guten Weg sind, Frauen noch besser vor Gewalt zu schützen und Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, andererseits ist noch deutlich mehr Einsatz und Aktivität auf allen staatlichen Ebenen notwendig, um die Ziele der Istanbul-Konvention vollumfänglich und zeitnah umzusetzen.

Langfristig bemisst sich der Erfolg der politischen Aktivitäten daran, dass das hohe Ausmaß von Gewalt gegen Frauen zurückgeht und die Gewalt erfolgreich verhindert werden kann. Dazu sind umfassende und wirkungsvolle Präventionskonzepte auf allen staatlichen und nichtstaatlichen Ebenen zu entwickeln und zu implementieren, an denen Fachkräfte aus Forschung, Politik und Praxis zu beteiligen sind, ebenso wie die breite Bevölkerung, unterschiedliche Zielgruppen sowie von Gewalt betroffene Frauen, die am unmittelbarsten einschätzen können, welche Maßnahmen wie bei den Zielgruppen wirken können.

Eine geschlechterneutrale Perspektive auf Gewalt im Geschlechterverhältnis, die beispielsweise häusliche Gewalt gegen Frauen und gegen Männer gleichsetzt und erstere entpolitisiert, wie sie aktuell in einigen Politik- und Praxisbereichen an Boden gewinnt, könnte bisherige Erfolge in der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen wieder zurückdrehen und die strukturellen Hintergründe des Problems vernebeln. Deshalb wird es wichtig sein, Gewalt gegen Frauen und Gewalt im Geschlechterverhältnis weiterhin sichtbar macht- und gesellschaftskritisch zu reflektieren.

Über die Autorin

Prof.in Dr. Monika Schröttle ist Sozial- und Politikwissenschaftlerin. An der Hochschule Ravensburg-Weingarten leitet sie als Professorin den Masterstudiengang Soziale Arbeit und Teilhabe an der Fakultät Soziales. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Teilhabeforschung, Gender, Gewalt und Menschenrechte, Behinderungs- und Migrationsforschung sowie die teilhabeorientierte nachhaltige Entwicklung von Kommunen. Sie koordiniert auf internationaler Ebene das European Observatory on Femicide (EOF) und das European Network on Gender and Violence (ENGV).

Mitarbeit: Dr. Franziska Pabst, Juliane Rump, Dr. Jana Hertwig